Würzburg (POW) „Wo die Worte aufhören, da fängt die Poesie an.“ Was Rezitator Bernhard Stengele zu Beginn der Veranstaltung „Die Faust selbst war eine geöffnete Hand“ am dritten Adventssonntag, 14. Dezember, sagt, ist ein wichtiger Schlüssel zur Lyrik von Jehuda Amichai. Gemeinsam thematisieren er, Amichais Tochter Emanuella und der Jazzpianist Robert Herrmann im Bertold-Hummel-Saal im Würzburger Mozartareal große Themen wie Liebe, Verlust, Krieg, aber auch den unerschütterlichen Glauben an den Menschen – mit Lyrik aus der Feder Jehuda Amichais. Er gilt als einer der meistgelesenen und bedeutendsten israelischen Dichter. Zudem war er unter den ersten, die in hebräischer Umgangssprache schrieben.
1924 als Ludwig Pfeuffer in Würzburg geboren, emigrierte Amichais Familie 1935 in das britische Mandatsgebiet Palästina. Sein Vater hatte beobachtet, wie ein jüdischer Student erschlagen worden war, ohne dass staatlicherseits irgendwelches Aufheben darum gemacht worden wäre. „Mein Vater hat mit dem Schreiben von Poesie angefangen, weil es ihn geheilt hat“, erzählt die Tochter. Auslöser sei ein englischsprachiger Gedichtband gewesen, der ihm bei der Militärausbildung in der britischen Armee in der Wüste Negev vor die Füße gefallen sei.
Im hebräischen Original durch Emanuella Amichai und in deutscher Übersetzung durch Stengele erklingen zahlreiche Gedichte aus dem umfangreichen Opus Jehuda Amichais. Wie das von der „Präzision des Schmerzes“ und der Verschwommenheit der Freude. Darin sinniert der Dichter, dass Menschen anderen gegenüber mit äußerster Genauigkeit Art und Ort eines Schmerzes beschreiben können. Freude dagegen werde nur sehr vage beschrieben. „Ich möchte mit der Präzision eines scharfen Schmerzes Glück und verschwommene Freude beschreiben. Ich habe gelernt, unter den Schmerzen zu sprechen“, heißt es in dem Gedicht.
Während auf der Bühne Gedichte eingeleitet, vorgetragen und Begebenheiten aus dem Leben des Dichters vorgetragen und musikalisch vertieft werden, malt die Künstlerin Marianne Hollenstein in den Grundfarben auf der Bühne sowie links und rechts von den Zuschauerreihen, was ihr beim Hören durch den Sinn geht. Zum Beispiel, wenn Emanuella Amichai von der Verwurzelung ihres Vaters in Franken berichtet. „Für ihn war in seiner Vorstellung klar: Goliath und David haben in einer grünen Hügellandschaft gekämpft, nicht in einer zerklüfteten, steinigen Umgebung.“ Seine Familie sei zugleich orthodox und liberal gewesen. Jehuda Amichai habe die religiöse Praxis mit 14 Jahren aufgegeben. „Biblische Themen und die Auseinandersetzung mit Gott haben ihn aber zeitlebens begleitet.“ So habe er die zehn Gebote um zwei zusätzliche, einander widersprüchliche, ergänzt: „Das Elfte Gebot: Du sollst dich nicht ändern. Das Zwölfte Gebot: Du sollst dich ändern. Du wirst dich ändern.“
Nach etwa einer Stunde ergeht die Einladung ans Publikum, eine Fotoausstellung im Foyer zu begehen. Es ist die Vorschau des Fotoprojektes „Israel 733:02:35“, mit dem zwei Jahre nach dem 7. Oktober 2023 an das schreckliche Massaker beim Überfall der Hamas auf Israel erinnert werden soll. Dieses Projekt befindet sich im Entstehen und zeigt Bilder, die ein Würzburger Team diesen Herbst in den zerstörten Kibbuzim vor Ort in Israel gemacht hat.
Um das Thema Verlust geht es beispielsweise auch im Gedicht „Kleine Ruth“. Es handelt von Amichais Kindheitsfreundin Ruth Hanover. 1939 gelang ihr mit einem Kindertransport die Ausreise nach Amsterdam. 1943 wurde sie über das niederländische Sammellager Westerbork nach Sobibor gebracht und dort ermordet wurde. In den Gedichten Jehuda Amichais ist sie wiederholt das persönliche Gesicht der sechs Millionen Holocaust-Opfer. Ein anderes, die jüdische Würzburger Lyrikerin Marianne Dora Rein, 1941 oder 1942 in Riga ermordet, bekommt an diesem Abend mit einigen ihrer Gedichte ebenfalls Raum. Diese sind kürzlich als Sammelband erschienen.
Ergreifend der Abschluss des Abends. Stengele lädt im Namen der vier Akteure auf der Bühne die 180 Besucherinnen und Besucher der Veranstaltung ein, für ein Israelisch-Palästinensisches Versöhnungsprojekt zu spenden, bei dem Werke Amichais und des palästinensischen Nationaldichters Mahmoud Darwish Menschen in beiden Ländern zugänglich gemacht wird. Dann trägt er Jehuda Amichais Gedicht. „Der Ort, an dem wir recht haben“ vor. Es erzählt davon, dass dort niemals im Frühling Blumen wüchsen, der Ort sei wie ein Hof, hart und zertrampelt. Der Ratschlag des Dichters: „Zweifel und Liebe aber lockern die Welt auf, wie ein Maulwurf, wie ein Pflug. Und ein Flüstern wird hörbar an dem Ort, wo das Haus stand, das zerstört wurde.“
Die Veranstaltung der Domschule Würzburg war eine Kooperation mit dem Würzburger Lehrstuhl für Altes Testament, der Stadt Würzburg, dem Bezirk Unterfranken, dem Johanna-Stahl-Zentrum, der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit sowie „Würzburg liest ein Buch“.
Der Abend wird am Samstag, 20. Dezember, um 19.30 Uhr auf Schloss Ponitz im thüringischen Landkreis Altenburger Land wiederholt.
mh (POW)
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