Die Predigt im Wortlaut:
„Jahr der Entscheidung“ – sagen der Präsident des IFO-Institut Clemens Fuest und Marcel Fratzscher, der DIW-Chef. Im Blick auf die Wirtschaft in Deutschland sprechen die beiden Top Ökonomen in ihren Prognosen vom „Schicksalsjahr“ 2025. Wörtlich heißt es: „Gelingt die Wende … oder folgt der unumkehrbare Absturz, besonders der Industrie ...“
Kriege, Klimawandel, schwächelnde Wirtschaft – Umfragen zufolge ist die große Mehrheit der Deutschen skeptisch. 64 Prozent der Befragten sagten in einer repräsentativen Studie, sie blickten angstvoll auf das Jahr 2025. Der Hamburger Zukunftsforscher Horst Opaschowski sagt: „Die globalen Herausforderungen – von Kriegen und Klimawandel über ungelöste nationale Probleme bis hin zu wirtschaftlichen Unsicherheiten, der anhaltenden Inflation und Migrationsfragen – prägen die Stimmungslage der Bundesbürger zum Jahresbeginn 2025.“
In seinem neuen Buch „Zukunftsbarometer“ schreibt der Wissenschaftler, die Mehrheit der Bevölkerung habe ganz andere Sorgen: Altersarmut und Gewaltkriminalität, Wohlstandsverluste und unbezahlbaren Wohnraum, Fake News und Einsamkeit.
In seinem Ausblick bis 2045 prognostiziert Opaschowski. „Wenig spricht derzeit dafür, dass die Zeiten friedlicher und sicherer werden.“ 2045 werden bei mehr als 90 Prozent der Deutschen das Sicherheitsbedürfnis dominierend sein und ihr Wohlstandsdenken bestimmen.
Zu den großen Sorgen der Deutschen werde auch in den nächsten Jahrzehnten der Klimawandel zählen. Wenn jedoch der Wohlstand gefährdet sei, schwinde die ökologische Sensibilität, vermutet Opaschowski. „Das Auf und Ab der Fridays-for-Future-Bewegung beweist, wie schnell die öffentliche Aufmerksamkeit sinkt, wenn Kriegsgefahren drohen und sich Wohlstandsverluste abzeichnen.“ Und die Ängste vor einem sozialen Absturz werden nach Einschätzung des Forschers weiter zunehmen.
Vereinsamung und Alterung könnten die Ängste verstärken. Die Weltbevölkerung wachse, Deutschlands Bevölkerung hingegen schrumpfe, schreibt der Wissenschaftler. Die Geburtenquote habe 2023 den niedrigsten Stand seit 2009 erreicht. „Die Jugend wird zur Minderheit, und 2045 gibt es in den meisten deutschen Haushalten keine Kinder mehr“, schreibt Opaschowski. Die Mehrheit der 65plus-Generation werde nicht verheiratet, sondern ledig, verwitwet oder geschieden sein. Das hat gravierende Auswirkungen auf die tragenden sozialen Netze.
Opaschowski glaubt, dass die soziale Stabilität des Generationenvertrags auf dem Spiel stehe. Kommunen würden in die roten Zahlen rutschen. Die Folgen seien marode Straßen und Sportanlagen sowie der Verlust an Kulturellem. „Eine neue Form der Wohlstandsverwahrlosung droht. Das Zusammenleben in Städten und Gemeinden wird kälter“, warnt der Zukunftsforscher im Zusammenhang mit den Folgen einer übergroßen Staatsverschuldung.
In einem Essay der Süddeutschen Zeitung dieser Tage warnte der Verfasser vor einer unbedachten Nostalgie, dass früher alles besser war. „Zwischen multiplen Krisen, Kriegen, KI, veränderter Arbeitswelt und ständiger Beschleunigung tröstet das gemeinsame Erinnern an Zeiten, in denen das Leben einfacher war … Die ständige Rückbesinnung auf die Vergangenheit verhindert den Fortschritt.“ Beides sei gefragt, schreibt der Verfasser: „Eine Dosis Fortschrittsvertrauen und eine Dosis Nostalgie.“ Nostalgie habe ein starkes progressives Potenzial, zitiert er den Historiker Tobias Becker. „Denn wer nostalgisch ist, artikuliert ja, dass in der Gegenwart etwas fehlt.“ Das sei ein guter Impuls, denn natürlich ist in der Gegenwart nicht alles toll. Das sei ein guter Impuls, wenn sie anfangen, sich für eine Zukunft zu begeistern, die auf dem Guten aus der Vergangenheit aufbaut und besser ist als die Gegenwart. Es brauche jetzt Mut. Neugier. Aufbruchsstimmung.
Ähnlich ermutigt der Benediktiner Anselm Grün im Blick auf das neue Jahr. Man dürfe die Augen nicht vor der „Großwetterlage“ der aktuellen Probleme verschließen. „Aber wir dürfen zugleich die Hoffnung haben, dass die Erde nicht nur in der Hand der Mächtigen ist, sondern vor allem in der Hand Gottes.“ Im Blick auf sein eigenes Leben äußert er seine Freude, dass er im Januar 80 Jahre alt wird, und „dass Gott mir ein weiteres Jahr schenkt ... Und es gibt auch die Freude auf Begegnungen mit Menschen, auf Feste und Feiern. Das ist keine Flucht vor der Realität, sondern es ist mitten in der Realität trotzdem zu spüren, dass es noch eine andere Wirklichkeit gibt, als das, was wir in den Medien ständig lesen.“
Der viel gefragte Benediktinermönch ermutigt, sich nicht nur auf die Ängste zu fixieren, auch wenn sie berechtigt sind. „Wenn ich in der Ohnmacht bleibe, werde ich hart oder psychisch krank. Wir können nicht die ganze Welt verändern, aber wir können dort, wo wir leben, ein Stück Welt verbessern.“
Damit bin ich bei einem weiteren wichtigen Hinweis im Blick auf das kommende Jahr – was immer es an Herausforderungen und Problemen mit sich bringen wird. Es sind jetzt genau 80 Jahre her. In der Silvesternacht 1944, also an der Jahreswende, schrieb der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer seiner Verlobten und seiner Mutter, die in größter Sorge um ihn waren, aus seiner Zelle in der Gestapo-Zentrale an der damaligen Prinz-Albrecht-Straße in Berlin das inzwischen weltbekannte Gebet „Von guten Mächten wunderbar geborgen“.
Bonhoeffer war gewiss kein religiöser Schwärmer. Die weltoffene Prägung im Elternhaus, die Verbindung zu verschiedenen Juristen, Philosophen, Naturwissenschaftlern und Medizinern eröffneten ihm einem klaren Blick für die Ereignisse der Zeit und die politischen Veränderungen. Als Adolf Hitler am 30. Januar 1933 die Macht übernahm, stimmte er mit seinen Freunden überein: „Das bedeutet Krieg!“
Seine stets klar und aufrechte Haltung führte zum Redeverbot, schließlich zur Verhaftung am 5. April 1943 und zur Hinrichtung wegen Hochverrat am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg.
Bonhoeffer kennt die Zweifel, die Unruhe, die Angst, die Traurigkeit, die dunklen Stunden im persönlichen Leben wie auch im Zusammenleben der vom Krieg überschatteten Gesellschaft. Dennoch ist er überzeugt, dass Gott uns hält und uns die Kraft gibt auf eine gute, lebenswerte und menschenwürdige Zukunft hinzuwirken.
Deshalb ist es bedeutsam, dass das Evangelium des heutigen Tages auf die Hirten verweist. Sie sind die ersten, die von diesem Retter erfuhren. Aber sie mussten ihn suchen.
- An einem Ort und in einer Situation, wo man eigentlich nicht suchen würde.
- Da, wo es stinkt und mieft – im Stall.
- Und schließlich braucht es einen Engel, der den entscheidenden Hinweis auf den menschgewordenen Gott gibt.
Ebenso braucht es für die Menschen im neuen Jahr überzeugte und überzeugende Botschafter für den Weg zu Gott und mit IHM in eine gute Zukunft. Das ist unsere Sendung, unser Auftrag als Christen, als Kirche, den Menschen in unserer Zeit den entscheidenden Hinweis auf Gott zu geben und sich nicht nur an politischen Ideologien zu orientieren. Bonhoeffer war überzeugt, dass das braune Regime keinen Bestand haben wird, und dass es beherzte Menschen braucht, die eine menschliche und lebenswürdige Gesellschaft gestalten werden.
Ein zweiter, sehr bedeutsamer Hinweis steckt im heutigen Evangelium: Lukas erwähnt zum ersten Mal nach der Geburt den Namen Jesus. Der Name ist Programm.
Jesus – Jeschua, Gott ist Heil – vor allem auch da, wo es nach Heil schreit. Die Hirten haben ihn draußen gefunden, weil sie auf den Engel gehört haben und ihrer inneren Gewissheit gefolgt sind, dass Gott immer und überall bei ihnen ist. Das Heil Gottes wird also erfahrbar durch das glaubwürdige Zeugnis von beherzten Menschen und von Gott be-geist-erten Menschen, die sich als SEINE Boten erweisen.
„Jesus – Gott ist Heil“, auch wir können IHN finden – an jedem Tag des neuen Jahres. Auch wir können IHN suchen in dem, was uns klein, unbedeutend, ungewöhnlich, was uns bedrohlich, beängstigend und fremd vorkommt. So hat es auch Dietrich Bonhoeffer erlebt.
Ein dritter wichtiger Hinweis für uns am ersten Tag des neuen Jahres steckt in dem biblischen Text, den wir als Lesung gehört haben. Im sogenannten Aaronitischen Segen wird den Menschen Gottes Heil zugesprochen: „Der Herr segne dich und behüte dich. Der Herr lasse sein Angesicht über dir leuchten und sei dir gnädig. Der Herr wende dir sein Angesicht zu und schenke dir Heil. So sollt ihr den Israeliten sagen.“
Diesen Segen können auch wir uns zusprechen – jeden Morgen, und so den Tag beginnen als Partner, in der Familie, gerade gegenüber den Kindern. „Der Herr wende dir sein Angesicht zu und schenke dir Heil.“ Von IHM gestärkt können wir ein Segen füreinander sein und einander bestärken im Vertrauen auf Gott, so wie es Dietrich Bonhoeffer getan hat. Für all die großen wie auch die vielen kleineren Probleme braucht es einen wachen Geist, Sachverstand, beherztes Engagement und bei allem Vertrauen in Gott, der uns inspiriert, trägt und hält.
Davon wollen wir nun miteinander singen und im Vertrauen auf IHN uns auf den Weg durch das neue Jahr machen. Dabei soll uns nicht die Angst vor all dem leiten, was sich derzeit an Problemen über uns auftut, sondern das Vertrauen: „Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag!“ In dieser Haltung können wir daran mitwirken, dass 2025 kein Schicksalsjahr wird, sondern viele Möglichkeiten bereithält, auf das Gute hinzuwirken!
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de
Text zur Besinnung
Der frühere, inzwischen verstorbene,
Innsbrucker Bischof Reinhold Stecher (*1921 – + 2013)
schrieb:
„Wir brauchen das Erlebnis ‚Fels‘ in unserem Leben.
Wir brauchen den Felsen gültiger Wahrheit,
der nicht zerbröselt und zerbricht,
und wir brauchen den festen Griff der Überzeugung,
mit dem wir uns an dieser Wahrheit festhalten.“